Was ist besser? Ein Mensch, der immer nur sein ICH, sein Ego, stärkt? Oder ein Mensch, der das WIR, das Allgemeinwohl, nach vorne bringt? „Das WIR natürlich!“, höre ich Sie rufen. Mit gutem Grund. Doch was ist mit einem Menschen, dessen ICH noch gar keine innere Stärke aufweist? Was kann dieser dann zum WIR beitragen? Wie will er dem WIR etwas geben, das er selbst nicht besitzt? Wie will er jemand anderem Stärke vermitteln, wenn sie ihm selber fehlt? Verblüffend. Überall wird das Eigeninteresse als negativ angeprangert und verurteilt. Deswegen stellen sich viele als „Aufopferungsheld- oder heldin“ dar. Das kommt gut an.
Ein Gedankenexperiment: „Du bist ein Egoist!“ „Wieso?“ „Weil du dich nur um dich kümmerst.“ „Okay. Und um wen sollte ich mich mehr kümmern?“ „Na, um mich natürlich!“… Egoismus ist ein Unwort und gehört in den Untergrund verbannt. Dort gärt es dann. So lernen Menschen, altruistisch zu tun, obwohl sich ihr Denken nur um sie selbst dreht. Und dann wundern wir uns, wenn wir mit dem Wolf im Schafspelz konfrontiert werden. Aus Heiligenschein wird Scheinheilig. Dabei ist Egoismus weder gut noch schlecht. Er ist ein Zustand der menschlichen Entwicklung. Ein Zwischenschritt auf dem Weg, über sich selbst hinauszudenken. Denn wer sein ICH nicht genügend gefüllt hat, muss es verdeckt andauernd weiter befüllen. Erst wenn es gefüllt ist, kann ein Mensch frei von der Sklaverei seines Egos werden. Schade, dass viele das nie erleben.
Altruismus ist der Gegenpol des Egoismus – bekanntestes Beispiel: Mutter Teresa. Zwei Jahre nach ihrem Tod wurde sie von Papst Johannes Paul II selig gesprochen. Zu Recht. Und schneller als je ein Mensch zuvor. Natürlich ist sie auch nicht über jede Kritik erhaben. Beim Umsetzen ihrer spartanischen Haltung soll sie sehr hart gewesen sein. Auch das ein Gedankenspiel: Ist jemand egoistisch, der tiefe Erfüllung erfährt, weil er den Armen, den Schwachen, hilft? Interessanter Gedanke, nicht wahr? Meine provokative These lautet: In jemandem mit der Stärke einer Mutter Teresa wohnt ein kraftvolles, entwickeltes Ego, das sich zum WIR transformiert hat.
Diese zwei Pole „ICH und WIR“ finden wir überall. Faktisch im Umgang mit den Menschen, die unser Leben beeinflussen, aber auch intellektuell und emotional in uns selbst. Menschen, die zu den Besten werden, die sie sein können, entwickeln sich über ein erfülltes, gefülltes ICH zum WIR. Der Wunsch, anderen zu helfen, hebt dann das ICH auf eine höhere Stufe. Es sei denn, ein ungefülltes ICH wandert in den Untergrund und macht seinen Besitzer zum Sklaven. ICH-Pol und WIR-Pol – Eigeninteresse und der größere Zusammenhang, mit dem wir uns verbinden und dem wir uns verpflichtet fühlen. Vielleicht kennen Sie das: Irgendwann ist es genug mit dem ICH, ICH, ICH. Es langweilt. Es nervt einen selbst. Genau hier setzt die Transformation zum WIR an.
Dazu eine Analogie, die beschreibt, wie Menschen sich entwickeln: Ein Fußballspiel dauert 2 x 45 Minuten. In der ersten Halbzeit spielen sie auf ein Tor, das wir ICH-Tor nennen. Nach dem Seitenwechsel in der Halbzeit wird auf das WIR-Tor gespielt. Wer aber die Halbzeit verpasst und weiter blindlings das alte Tor bestürmt, schießt in der zweiten Hälfte nur Eigentore. Und wer das ICH in der ersten Halbzeit nicht gestärkt hat, bleibt in der zweiten oft erschreckend schwach, weil er nichts hat, das er einbringen kann. Denn nur ein starkes ICH hat die Kraft, das WIR stärker zu machen.
Eltern mit geistig erwachsenen Kindern haben es erlebt: die Familie als Hort der Harmonie, solange die Kinder klein sind. Dann nabeln sie sich ab, profilieren sich, begehren auf bis zur Rebellion. Schließlich entdecken sie ihre neue ICH-Stärke und nehmen ihren Platz in der Familie wieder ein. Was aber passiert, wenn schwache Eltern die ICH-Findung durch Unterdrückung oder Verzärtelung blockieren? Die Teenager finden ihren Platz nicht. Weil sie ihre Position in einer Gemeinschaft nicht bestimmen können, ersetzt ihr gekränktes Ego den Gemeinsinn. So entsteht statt gesundem Eigeninteresse krankhafter Egoismus, der Mitmenschen zu Sklaven ihrer Selbstsucht degradiert.
Deswegen: Ohne starkes ICH kein starkes WIR. Familie, Arbeitsplatz oder Verein: Fördern Sie ein starkes ICH und fordern Sie das WIR ein. Als kluge Führungskraft wollen Sie souveräne Mitarbeiter mit einem starken ICH und berechtigtem Eigeninteresse, einem gesunden Egoismus. Denn jedes WIR profitiert von der Stärke seiner Teile, wie das Orchester von seinen starken Solisten. So wird „Teamgeist“ keine willkommene Ausrede für Lemminge, Mitläufer, Drückeberger und Duckmäuser.
Eine schwache Führungskraft kann die Ich-Werdung anderer nicht aushalten. Eine souveräne Führungskraft ist virtuos und blitzschnell darin, beide Sichtweisen einzunehmen und zu leben: Das ICH und das WIR. Überzogene Egoisten sind Menschen mit einem schwachen ICH, die sich nicht in etwas Größeres einbringen können. Nur wenn ein Mensch sein ICH gefunden hat, besitzt er genug innere Größe, sich anderen zuzuwenden – ohne Angst zu kurz zu kommen. Er weiß, es ist genug für alle da. Und er versteht, was François de La Rochefoucauld meinte, als er sagte: „Eigennutz macht die einen blind, die andern sehend.“
Darum sind Sie nicht wirklich glücklich.
Warum Erfolg und Erfüllung nichts miteinander zu tun haben.
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