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Lassen Sie öfter los!

lassen sie ihren geistigen extremismus los!

Inhaltsverzeichnis

Haben Sie schon einmal den Terrier beobachtet, der sich ins Stöckchen seines Herrchens verbissen hat? Der sich mit aller Macht gegen das Aufgeben seiner Beute wehrt – bis er sogar in der Luft zappelt? Oder bei einem Boxerhund? Haben Sie nicht schon einmal über seinen Besitzer geschmunzelt, der bei diesem Spiel mit seinem unnachgiebigen Vierbeiner als zweiter Sieger hervorgeht?

Ich spreche hier von der Faszination des totalen Fokus – dem Tunnelblick – oft erwünscht, jedoch schwer zu erreichen. Im Zupacken verschmelzen Wille, Entschlossenheit und Jagdleidenschaft des Hundes mit dem Stöckchen – so, als sei es das Begehrenswerteste der Welt. Natürlich ist diese extreme Identifikation zwischen Mensch und Aufgabe oft zu viel verlangt. Manche nennen diesen Zustand Flow. Das Problem: Was, wenn Sie sich in etwas verbissen haben, für das es sich nicht zu kämpfen lohnt? Zum Beispiel eine Detailbesessenheit, die für das Endergebnis gar nicht mehr wichtig oder sogar hinderlich ist. Oder das Festhalten an einem Produkt, obwohl es schon lange seinen Platz in einer Ahnengalerie einnehmen sollte? Oder ein negatives Gefühl gegenüber einer Person, welche Ihnen Schmerz zugefügt hat?

Gehen wir etwa zehntausend Kilometer weiter. Nach Afrika. Genauer in die Kalahari. Der dort lebende Pavian ist ein neugieriger Zeitgenosse. Das nutzen die Menschen in Afrika, um die Affen zu fangen, damit diese sie zu überlebenswichtigen Wasserstellen in der Wüste führen. Zu diesem Zweck bohrt der Jäger ein Loch in einen verlassenen Termitenhügel und legt einen Köder hinein: Melonensamen. Befeuert von seiner Neugier vergisst der Primat sämtliche Vorsicht, nähert sich dem Loch und steckt seine Hand hinein. Er greift zu. Die geballte Faust passt jedoch nicht mehr durch die Öffnung. Er schreit und zerrt. Seine Beute lässt der Affe selbst dann nicht los, wenn der Jäger ihm eine Schlinge um den Hals legt. Ist der Pavian in die Falle getappt, wird er mit Salz gefüttert. Das macht den Affen sehr durstig. Sobald er wieder frei ist, rennt er, ohne zu zögern, zu seiner geheimen Wasserstelle. So kommt der Jäger zu seinem Durstlöscher.

Das Zupacken endet beim Hund in einem beliebten Jagdspiel. Beim Pavian in ungewolltem Teilen seiner Ressourcen. Er wird vorgeführt. Aber warum lassen Affe und Hund nicht mehr locker? Die Antwort: Weil sie sich mental festgekrallt haben. Sie sind nur noch auf das Eine fixiert. Sie sind zu Sklaven ihrer Engstirnigkeit geworden. Das macht sie in ihrem Handeln leicht berechenbar. Der Weg zur Freiheit, das Loslassen von ihrem geistigen Extremismus, kommt ihnen dabei gar nicht in den Sinn. Nicht nur Tiere verrennen sich. Wir Menschen machen das je nach Bewusstseinszustand auf der ganzen Welt genauso. Vielleicht mit Ausnahme einiger Shaolin-Mönche und anderer Weiser. Das glauben Sie nicht?

Betrachten wir uns selbst und unsere Mitmenschen, beobachten wir, wie schnell wir uns geistig verrennen. Wobei der Blick auf andere leichter ist als auf sich selbst. Wir belächeln den übermäßig Ehrgeizigen, der zum Sklaven seiner Erfolgsfixierung wird und sich und andere mental vergewaltigt. Wir alle sind keineswegs immun dagegen. Jeder trägt zumindest einen Samen geistigen Extremismus in sich. Je nach Prägungen und Erfahrungen zeigen sich bestimmte Muster. Zu leicht machen wir uns zu Sklaven unseres Perfektionismus, unseres Idealismus, unserer Gier nach guten Gefühlen, oder wir werden zum Leibeigenen der Vermeidung schlechter Gefühle. Oder wir wollen „Recht haben“ und behalten. Und setzen dafür andere auch schon mal ins Unrecht. Wir wollen vor anderen gut dastehen und liefern dafür gerne auch andere ans Messer. Wir differenzieren mangelhaft mit richtig, falsch, gut und böse. Wobei unsere Sicht der Dinge natürlich die „richtige“ weil unsere ist. Sind wir selbst immer pünktlich, trauen wir einem notorisch unpünktlichen zu, dass er zum Frühstück kleine Kinder isst.

Derart gefangen, sind wir dem jeweiligen Gefühl ausgeliefert. Wir werden unbewusst von Mechanismen geführt, die uns kontrollieren. Wir sind am Anfang zumindest der Hund. Und wenn es ganz dumm läuft, am Schluss auch noch der Affe. Wir müssten eigentlich nur die Samen und die Stöcke freigeben und könnten frei sein. Stattdessen werden wir zu mentalen Extremisten, die sich kaum noch befreien können. Das gilt vor allem bei handfesten Partnerschaftsstreits. Machen Sie doch mal den Versuch und filmen sich dabei. Sie werden anschließend behaupten: Das war ich nicht. Das war jemand, der sich verkleidet hat wie ich. Warum ist das so? Zum einen ist das Loslassen sehr schwierig, und es ist eine immer wiederkehrende Herausforderung. Zum andern ist die Sicht auf den eigenen Extremismus durch unsere blinden Flecken getrübt.

Das gilt für alle Gefühle, negative wie positive. Auch unserem Denken geht es so, wenn es zum Ausschnittsdenken wird. Immer, wenn Emotionen oder Gedanken ins Extreme abgleiten, werden wir zum Pavian vor dem Termitenhügel. Angenommen, Sie werden belogen. Wie reagieren Sie? Verletzt? Misstrauisch? Dauerhaft? Sehen Sie Ihr Gegenüber jetzt generell als Lügner? Wie ist es aber, wenn Sie selbst lügen? Urteilen Sie dann auch so pauschal, oder haben Sie dann eine Berechtigungs-Ausnahmeerklärung parat? Eine Notlüge, weil Sie den anderen vielleicht nicht verletzen wollen? Ausreichende Distanz im persönlichen Erleben scheint schwierig. Je nachdem, wie sehr wir uns betroffen fühlen, messen wir mit zweierlei Maß. Maschinengewehrfeuer in Aleppo wirkt anders als in Paris. Das kann uns zu Wahrnehmungs-Extremisten machen.

Manchmal müssen wir auch zwischen den Extremen pendeln. Denken Sie an den Idealisten, der unbeirrbar an andere glaubt. Er hat meist zwei Erfahrungen gemacht: Zunächst vertraut er zu viel. Das führt zwangsläufig zu Enttäuschungen. Eine Erfahrung, die das ursprüngliche Vertrauen in ein zu geringes Vertrauen, ein generelles Misstrauen umschlagen lassen kann. Erst, wenn er anderen vergibt – immer wieder – kommt er zum klugen, bewussten Vertrauen. In die goldene Mitte. Vergeben ist Loslassen. Loslassen von Verletzungen, von Verurteilungen, Neid, Gier und jedem oberflächlichen Schubladendenken, das uns die Welt vereinfachen soll. Ohne uns und anderen regelmäßig zu vergeben, vergiften wir unsere Seele und verfremden unsere Wahrnehmung. Bleiben wir im Extremismus verhaftet, werden wir schnell zum Opfer derer, die unsere Situation erkennen. Dann sind wir empfänglich für Manipulationen. Das geht hin bis zur Selbsttötung im Namen Gottes. Wie der Affe, der mit dem Salz zu seiner geheimen Wasserstelle gelockt wird. Wenn ich loslasse, werde ich dagegen wieder mein eigener Herr. Dann werden die Gefühle zu einem mächtigen Gestaltungswerkzeug meiner Entwicklung. Herr anstatt Sklave. Darauf kommt es an.

Diese Transformation ist nur möglich, wenn ich erkenne, dass es in einem Bereich ein Zuviel oder Zuwenig gibt. Apropos: Wo neigen Sie zum Extremismus? Welcher Stock, welcher Melonensamen vereinnahmt Sie bis zur Blindheit? Halten Sie an einer Verletzung in der Vergangenheit, Ihrer Verärgerung fest? Gehören Sie zu den Helikoptereltern, die ihre eigenen Ängste gut gemeint auf ihre Kinder übertragen und sie damit einengen? Oder sind Sie eine Führungskraft, die allgegenwärtig sein und alles „im Griff haben“ will, bis hin zum Kontrollzwang? Am einfachsten bekommen wir das heraus, wenn wir Andere danach fragen. Sicherlich, das kostet Mut. Suchen Sie sich dennoch mehrere, die ehrlich antworten können. Nehmen Sie nicht alles an. Auch „Feedback“ sollte sauber durchdacht werden.

Mein eigenes Leben wäre für mich ohne ständig erneutes Loslassen undenkbar. Während andere schnell in ihr Auto einsteigen oder zügig eine Treppe hinaufsteigen können, gestaltet sich das für mich sehr schwierig. Wenn ich beginne, mich durch Vergleichen im anderen zu verlieren, laufe ich Gefahr, mich in geistigen Extremismus zu verrennen. Immer wieder muss ich mich im Loslassen üben. Vielleicht kennen Sie auch einen Behinderten, dem das nicht gelingt und der verhärtet in Selbstmitleid gefangen ist. Diese Gefahr ist groß. Nur wenn ich so oft wie möglich ganz bei mir bleibe, bin ich in der Lage, mein Leben selbstbestimmt zu meistern. Und das bedeutet Freiheit. Es gibt nichts Schöneres.

Erst, wenn Sie den eigenen Extremismus in Ihrem Denken oder Fühlen erkennen, können Sie ihn auflösen. Ihnen wird bewusst, warum Sie handeln, wie Sie handeln. In diesem Stadium können Sie das Gefühl anerkennen und loslassen. Sie entscheiden sich bewusst für die goldene Mitte und lassen sich nicht mehr von Extremen leiten. Hierin liegt der klare und distanzierte Blick auf sich selbst und schließlich auch auf andere. Dieser Moment heißt „Präsenz“. Oder nennen Sie ihn Achtsamkeit oder Wachheit. Ich bin präsent, wenn mir weder die Vergangenheit noch die Gegenwart den Blick auf das versperren, was jetzt da ist. Dann sind Sie weitestgehend frei von Bewertungen. Natürlich können wir das nicht immer sein. Bewertende Gedanken holen uns jeden Tag, jede Stunde, jeden Moment immer wieder ein. In solchen Momenten ist es hilfreich, sich die Bewertung bewusst zu machen und einen klareren Blick auf die Situation zu werfen. Statt einem „gut“ oder „schlecht“, „richtig“ oder „falsch“ lassen Sie einfach ein „interessant“ an diese Stelle treten. So kommen Sie in die Präsenz zurück und können leichter loslassen.

Wie hilfreich ein freier Blick für bessere Entscheidungen und damit für bessere Ergebnisse ist, brauche ich Ihnen sicher nicht zu sagen. Daher: Lassen Sie Ihren geistigen Extremismus los, wo es einfach dumm ist und setzen Sie ihn ein, wo es Sinn macht. Lassen Sie sich auf die Vielfalt ein, die Sie in der Präsenz erleben können. Und nehmen Sie dann den kraftvollsten Blickwinkel ein, den Sie erkennen. So werden Sie und andere die Besten, die sie sein können.

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