Das wichtigste Ziel von Menschenführung ist Charakterbildung. Charakter heißt, sich anderen klar zu erkennen zu geben. Mit allen Stärken und Schwächen. Egal, auf welcher Entwicklungsstufe man gerade steht. Wissend, dass man nie vollkommen sein wird. Wer den Mut hat, seine eigenen hellen und dunklen Seiten zu erkennen und zu akzeptieren, der kann auch mit der Fehlbarkeit anderer besser leben. Das gilt für Führungskräfte genauso wie für Mitarbeiter. Das gilt für jeden Menschen, der sich weiterentwickeln will.
Perfektionismus macht charakterlos
Eine der größten Geißeln der Menschheit ist der Perfektionismus – der Wunsch, ein idealer Mensch zu sein oder einem idealen Menschen zu folgen. Dabei verblendet der Perfektionismus unsere Wahrnehmung und hält uns von unserem eigenen Charakter – unserer inneren Realität – fern. Er zeigt sich unter anderem in dem Bild der „Unverletzbarkeit“, das manche nach außen abzugeben versuchen. Der Starke, der alles kann und immer souverän ist. Weil wir aber niemals vollkommen sind, sondern immer vor der nächsten Entwicklungsstufe stehen, zerreißt uns die äußerlich demonstrierte Perfektion innerlich. Wir brennen aus. Menschen mit Charakter zeigen nach außen, auf welcher Stufe der Entwicklung sie wirklich stehen. Sie nehmen einen Standpunkt ein, sind greifbar und damit auch angreifbar. Dadurch gewinnen sie ihren unverwechselbaren Charakter, gleichzeitig werden sie verletzbarer.
Um Charakter zu beweisen und mich so zu zeigen, wie ich wirklich bin, muss ich etwas ganz Einfaches tun, das gleichzeitig das Schwierigste überhaupt ist: Ich muss mich selbst so annehmen, wie ich bin. Ehrlich mir selbst gegenüber zu sein, ist schwierig. Wenn ich mich selbst ungeschminkt ansehe und aushalte, kann ich lernen, meine Unvollkommenheit zu akzeptieren. Ich lerne, meine Fehler nicht zu verheimlichen, sondern öffne mich und entwickle dadurch auch andere. Für authentische Stärken wirst du respektiert, für authentische Schwächen geliebt!
Ungeduld ist keine Charakterstärke
Zu seinen Fehlern zu stehen, bedeutet nicht, mit vermeintlichen Fehlern zu kokettieren. Fast schon ein Klassiker ist das Bekenntnis zur „Ungeduld“ als persönlicher Fehler. Wenn Spitzenkräften in Bewerbungsgesprächen die Frage gestellt wird, was ihr größter Fehler sei, antworten sie, wie aus der Pistole geschossen: Ungeduld. In Wirklichkeit sehen sie das natürlich gar nicht als Fehler, sondern denken, ihre Ungeduld sei ein Beweis ihrer besonderen Dynamik und Entschlussfreude. Damit wollen sie punkten. Doch Ungeduld hat mit Dynamik und Entschlussfreude nicht das Geringste zu tun. Ungeduld ist ein verheerender Charakterfehler. Ungeduld heißt, Angst zu haben, etwas nicht zu schaffen. Ungeduld ist ein Merkmal mangelnden Vertrauens in sich selbst und andere. Tiefer betrachtet zeigt die Ungeduld oft auch mangelnden Ehrgeiz, denn um hohe Ziele zu erreichen, braucht man viel Geduld.
Ich würde niemals eine Führungskraft einstellen, die mit stolzgeschwellter Brust von sich behauptet, ungeduldig zu sein. Wirklich ungeduldige Menschen sind zur Führung anderer charakterlich nicht geeignet. Wenn dagegen eine angehende Führungskraft im Bewerbungsgespräch auf die Frage nach ihrem größten Fehler antworten würde: „Ich bekomme immer einen Wutanfall, wenn ein Mitarbeiter eine meiner Entscheidungen kritisiert.“ Dann wäre ich neugierig auf denjenigen, denn eine solche Antwort zeigt Charakter. Charakter ist der offene Umgang mit der dunklen Seite der eigenen Persönlichkeit.
Ein starkes Team zeigt immer auch Charakter
Charakter zu zeigen, heißt, sich zu erkennen zu geben. Ja, es kann sogar heißen, sich selbst zu demaskieren. Der Preis, den man für diese Öffnung zahlt, ist die Verletzbarkeit. Im Gegenzug bekommt man Vertrauen. Vertrauen darauf, dass die Wahrheit heilt. Nur eine Führungskraft, die sich wirklich öffnet, kann für andere zum Vorbild werden. Und nur ein Team von Führungskräften und Mitarbeitern, in dem man sich gegenseitig wirklich kennt, in dem wahre Charaktere arbeiten, wird sich gegenseitig befruchten.
Darum sind Sie nicht wirklich glücklich.
Warum Erfolg und Erfüllung nichts miteinander zu tun haben.
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