„Der Kaiser packt aus: Wurde das Sommermärchen 2006 gekauft? Der Kaiser muss es wissen. Oder, weil der ja lieber Golf spielt als sich Geschäften zu widmen, sein Doppelgänger Schorsch Aigner. Heute um 22.45 Uhr im Ersten plaudert er aus dem Trikot-Kästchen.“
Eine sehr symptomatische Meldung zu einer ARD-Sendung, wie ich sie vor einigen Tagen in einem Mediennewsletter fand. Franz Beckenbauer, eine Lichtgestalt des deutschen Fußballs, auf dem absteigenden Image-Ast. Volkswagen – auch so ein Beispiel. Geschüttelt vom Skandal um die Abgaswerte. Erinnern Sie sich auch an Jörg Kachelmann, Uli Hoeneß oder die Medien- und Justizkampagne rund um Christian Wulff, die ihn schließlich zum Rücktritt vom Bundespräsidentenamt zwang.
Unsere Gesellschaft wird von Schwarzweißdenken beherrscht. Deswegen bedienen die Medien genau das. Ganz oben – ganz unten. Hat eines unserer Idole gefehlt, wird ganz schnell aus Bewunderung Häme, aus Verehrung Verfolgung. Denn unsere Idole müssen perfekt sein. Ohne Fehl und Tadel und in jeder Hinsicht moralisch integer. Woher kommt das?
Perfektionismus ist Fluch und Segen zugleich. Ein Segen, der unseren Fortschritt antreibt, ein Fluch, der die Seele überfordert. Ein Beispiel: Sie gehen an Bord eines Flugzeugs. Sie fragen den Pilot: „Zu wie viel Prozent funktioniert die Düse?“ Er antwortet: „Zu 80 Prozent“. Würden Sie mitfliegen? Andere Szene: Sie bewerben sich bei einem perspektivreichen Unternehmen. Am Vorstellungstag treffen Sie Ihren zukünftigen Chef: „Zu wie viel Prozent treffen Sie die richtigen Entscheidungen?“ Er antwortet: „Zu 80 Prozent“ Würden Sie dort gerne arbeiten?
Menschen und Maschinen sind verschieden. Maschinen sollen perfekt laufen. Wer dieses „Maschinenbild“ auf den Menschen überträgt, macht einen schwerwiegenden Fehler. Der Wunsch nach menschlicher Perfektion lenkt die Aufmerksamkeit so sehr auf Defizite, dass diesem Bild niemand gerecht werden kann. Und weil wir diesem Anspruch nicht genügen, projizieren wir unseren Druck nach außen. Deswegen suchen wir den Traumpartner, den Traumjob, die Traumkinder und den idealen Chef. Die Frage, ob wir das selbst sind, stellen wir uns aus Versagensangst nicht. Die herbeigesehnte Perfektion lähmt uns durch Ihre Unerreichbarkeit.
Und unsere „Vorbilder“? Sie versuchen, unserer Vorstellung gerecht zu werden, damit wir sie verehren. Obwohl selbst keine Heiligen, spielen sie das Theater des Ideals. Das ist der Deal: Stille meine Sehnsucht und ich himmle Dich an! Wenn sich dann die Schattenseiten dieser Supermenschen offenbaren, sind wir enttäuscht und voller Anklage. Obermoralist Michel Friedmann beispielsweise feierte höchst unmoralische Partys mit Rotlichtcharakter. Obersaubermann Karl-Theodor zu Guttenberg hat sehr unsauber seine Doktorarbeit frisiert. Oberankläger Uli Hoeneß wurde zum Oberangeklagten. An diesem Druck zerbrechen Prominente ebenso wie weniger bekannte Menschen. Das Tragische daran: Wir steinigen unsere gefallenen Helden und bemerken nicht, dass wir sie für unseren eigenen Mangel strafen.
Wie sieht die Lösung aus? Wir drehen die Sache um. Vorher galt: „Ich habe Ideale, aber andere sollen sie erfüllen.“ Hier wird der Idealismus zur Horrorshow. Und jetzt gilt: „Ich erkenne, wer ich bin und wo ich stehe und strecke mich in Richtung eines Ideals.“ Hier wird Idealismus zum „klugen Antreiber“. Im ersten Fall arbeite ich mehr an anderen, jetzt arbeite ich mehr an mir selbst. Bisher konzentrierte ich mich auf Defizite, ab jetzt auf das, was da ist. Das ist der Schlüssel: Nimm das real Gegebene und mache mehr daraus! Das war und ist schon immer der heilsamere Weg. Leicht zu wissen, schwer zu leben. Denn es geht nicht um intellektuelles „Kennen“, sondern um emotionales „Können“.
Menschen sehnen sich scheinbar so sehr nach Vollkommenheit, dass sie sie anderen einfach unterstellen und dabei verdrängen, dass dies nur eine Illusion ist. Das Spiegelprinzip lässt grüßen! Wenn sie dann feststellen, dass ihre Vorbilder gar nicht so perfekt sind, fallen sie über sie her.
Wenn Sie wachsen wollen, brauchen Sie Vorbilder. Nennen Sie sie von mir aus Ratgeber, Lehrer oder Mentoren. Wählen Sie gut aus, was Sie von wem lernen – es liegt in Ihrer Verantwortung. »Kaufen« Sie auch nicht alles von einer Person. Picken Sie sich die Rosinen raus. Und vergessen Sie nicht: Nobody is perfect. Größe kann man nur von den wirklich Großen lernen. Und groß kann auch ein Hausmeister sein – etwa weil er besonders integer ist. Aber das können Sie nur herausfinden, wenn Sie jedem Menschen mit Respekt begegnen.
Suchen Sie sich Vorbilder, von denen Sie lernen können – keine Superhelden, die Sie auf ein Podest stellen, anbeten und fallen lassen, wenn sie straucheln. Die Botschaft ist klar und einfach: Mach Dich selbst und andere stark! „Stark“, nicht „perfekt“! Zum Wohle aller.
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