Fordernd steht Müller vor seinem Chef: „Es wäre mal wieder Zeit, mein Gehalt aufzustocken!“ Der Chef schaut prüfend: „Wie sieht es denn mit Ihren Ergebnissen aus? Wenn ich es richtig sehe, sind die nicht besser als im Vorjahr.“ Interessant, was hier passiert: Müller verlangt mehr Geld für gleiche Leistung – und dabei geht es ihm nicht nur um eine Summe, sondern auch um Gerechtigkeit. „Da ich besser bin als Meier, muss ich auch mehr verdienen als er.“ So denkt er und tappt dabei in die Falle der Überlegenheitsillusion.
Dass Menschen sich vergleichen, ist natürlich. Verblendend dabei ist allerdings die trübe Linse, die wir uns selbst gegenüber oft haben. In einem Weltbestseller heißt es sinngemäß:
„Es ist leichter, den Splitter im Auge des anderen zu erkennen als den Balken im eigenen.“
Die Fehler anderer sehen wir schärfer als ein Adler, bei uns selbst werden wir zum blinden Maulwurf.
So entsteht gefühlte Überlegenheit: die Überlegenheitsillusion
Sie wird zusätzlich genährt von einem bei uns stark ausgeprägten Dominanzstreben. Deshalb braucht auch Müller das Gefühl, besser, schneller, klüger, schöner, gesünder oder reicher zu sein als alle Meiers dieser Welt. Weil Menschen so ticken, entscheiden sie sich für den bequemeren von zwei Wegen: mehr Geld für gleiche Leistung oder mehr Geld für bessere Ergebnisse. Der bequemere Müller-Weg mündet darin, andere abzuwerten, um sich dadurch größer zu fühlen. Der anstrengendere, nachhaltigere Weg ist es, bei sich zu bleiben, sich zu entwickeln und bessere Ergebnisse zu produzieren – um damit zu verdienen, was man verdienen will.
Und so fragt Müller nicht danach, was er tun kann, um seinen Wert fürs Unternehmen zu erhöhen. Aus seiner Sicht braucht er das nicht. Weil er sich ohnehin den Meiers dieser Welt überlegen fühlt. Wer seine Überlegenheitsillusion auflösen will, muss sich selbst auf die Schliche kommen und zwischen klugen und dummen Vergleichen unterscheiden – und damit zwischen Inspiration und Stagnation.
Das dumme Vergleichen sieht und überbetont die Defizite des anderen. Warum besser werden, wenn ich doch schon über den anderen stehe? Das Ergebnis ist Lähmung und Stagnation. Der kluge Vergleich scannt das Gegenüber nach dem, was an ihm stark ist und was wir von ihm lernen können. Eine Art „Rosinenpicken“ – das inspiriert und weckt Entwicklungslust.
Minderwertigkeitskomplex am Werk
Eine bekannte Szene: Wenn selbst ernannte Schlaumeier am Stammtisch über die Mächtigen der Welt herziehen, schenkt ihnen das ein Gefühl von Größe, von Überlegenheit. Das gemeinsame Runterputzen reduziert den Abstand zwischen dem gefühlten eigenen Minderwert und der Strahlkraft der anderen. Weil das nur kurz wirkt, muss das Ritual wöchentlich wiederholt werden. Hier ist ein einfacher, leicht zu durchschauender Minderwertigkeitskomplex am Werk. Doch je intelligenter Menschen sind, desto cleverer maskieren sie ihre Überlegenheitsillusion.
Intelligenz verpackt Neid in moralische Vorwürfe. Leistungen anderer werden aufs Aussehen, Beziehungen, ererbtes Geld oder Skrupellosigkeit reduziert.
„Wer die Menschen kennenlernen will, der studiere ihre Entschuldigungsgründe“,
erkannte schon der Lyriker Christian Friedrich Hebbel.
Wer also vom Leben mehr verlangt als bisher, sollte nicht einfach seine Forderungen erhöhen, sondern an seiner Wirkung arbeiten. Am klügsten wäre, sich nicht zu vergleichen. Ganz bei sich zu bleiben. Leicht gesagt, sehr schwer umgesetzt. Aber wenn vergleichen, dann bitte klug. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Vergleich zu Inspiration und Respekt führt statt zu Stagnation und verstecktem Neid. Führen Sie zuerst sich selbst zu dieser Erkenntnis und dann den Kollegen Müller. Nicht umgekehrt!
Darum sind Sie nicht wirklich glücklich.
Warum Erfolg und Erfüllung nichts miteinander zu tun haben.
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